Über Risiko und Entscheidungen

Der Kaderlehrgang im Sommer 2018 fand im Voralptal (Bigwall), am Sustenpass (Hochtourenausbildung) und im Mt. Blancgebiet statt.  


“Ein Gipfel gehört erst dir, wenn du wieder unten bist – denn vorher gehörst du ihm.“  


Weiß auch Kletterkoryphäe Hans Kammerlander. Doch nicht nur Glück war es, das den Profibergsteiger trotz all seiner riskanten Touren hat über 60 Jahre alt werden lassen. Hinter erfolgreichem Bergsteigen stecken unzählig viele Entscheidungen, richtige Entscheidungen. Eine solche richtige Entscheidung ist im Nachhinein oft leicht zu bewerten, doch zunächst mitunter eine äußerst schwierige Angelegenheit. 

Wetter

In den Genuss einer solchen Situation durften wir bei unserem letzten Alpinkader NRW Lehrgang auch kommen. In diesem Sommer stand für uns das Thema Hochtouren auf dem Plan, also alle Skills rund um das Laufen auf dem Gletscher am Seil, der Spaltenbergung und dem Laufen in der Höhe verfeinern. Doch zunächst mussten wir uns mit einer für den Bergsteiger sehr bekannten Entscheidung rumschlagen; Was fangen wir mit diesem Wetter an? Mal wieder wollte das Wetter nicht ganz so wie wir und deshalb trafen wir uns mal wieder in Göschenen in der Schweiz wo für die nächsten Tage wenigstens ein paar brauchbare Stunden vorhergesagt waren. Da sich die Wetterberichte fast stündlich änderten und dann trotzdem das erwartete Gewitter durch blauen Himmel ersetzt wurde, mussten wir die langen Westalpentouren vorerst etwas verschieben.

Erstbegehung & Hochtourenausbildung

Unser erstes Ziel war also das Voralptal wo uns eine unberührte Big Wall erwartete. Ein Projekt aus letztem Sommer das auf seine Fortsetzung wartete um mit dem richtigen Schliff zu einem Techno-Juwel zu werden. Mit einem Blick auf ein Wetterfenster fuhren wir mit Mann und Maus einmal über den Sustenpass und stiegen für eine Nacht auf die Tierberglihütte auf. Diese sollte uns als Stützpunkt für die Spaltenbergungseinheit dienen. Bei zunächst sommerlich brutzelnder Sonne liefen wir am Seil über den Gletscher, bis unser Ausbilder Fritz Miller eine Gletscherspalte gefunden hat, mit dessen furchteinflößender Größe er zufrieden war. Die nächsten Stunden musste jede Seilschaft, am gesicherten Seil, den Sturz des Seilschaftsersten in den schwarzen Abgrund zunächst erst mal halten und dann mit einer der verschiedenen Techniken retten. Von T-Anker über Mannschaftszug bis hin zur Selbstrettung übten wir die verschiedenen möglichen Szenarien bis Sie allmählich zu routiniertem Handwerk wurden. Auch der nächste Tag diente dazu, noch problematische Punkte zu verbessern und besonders schwierige Situationen zu lösen.

Auf zum Mt. Blanc

Wieder zurück im Tal entschieden wir uns dazu unser Wetterschicksal zu fordern und fuhren quer durchs Wallis ins Aostatal, Ziel: Mont Blanc. Nach 4 Pässen und unzählig vielen Kurven kamen wir nach einer Nacht unter freiem Himmel in Courmayeur an und genossen den atemberaubenden Blick auf das Bergmassiv mit einem italienischen Cappuccino. Das kleine italienische Kaffee an einem schönen Platz in der Fußgängerzone wurde von uns vorrübergehend zum strategischen Stützpunkt umfunktioniert.  Leider hatten wir nur ein kurzes Wetterfenster und wie die Tage uns gezeigt haben war dieser auch nicht viel zuverlässiger als griechische Busse. 

Über den Miagegletscher zur Gonellahütte

Wir entschieden uns also für die Überschreitung vom italienischen Normalweg auf den Mont Blanc über die Gonellahütte, mit Abstieg zum Rifugio Turino. Der Zustieg über den Miagegletscher war lang, wurde aber durch die wunderschöne Landschaft in der Charakteristischen Mont Blanc Szenerie zu einem abwechslungsreichen Panoramamarsch. Auf der Gonellahütte wurden wir mit Risotto auf die anstehende Nacht vorbereitet: Mitternacht Frühstück, danach Aufbruch in Richtung Gipfel. Der lange Weg vorbei am Dôme du Goûter führt zunächst über einen spaltenreichen Gletscher. Um die Schneebrücken und den steilen Anstieg zum Gipfel bei hartem Firn machen zu können, sind die tiefen Temperaturen in der Nacht sehr wichtig, dessen waren sich alle auf der Hütte bewusst. Aus diesem Grund gingen alle nach dem frühen Abendessen und schnell in das Schlaflager und versuchten wenigsten ein paar Stunden Ruhe für den Körper zu finden.

Zweifelhaftes Rudelverhalten?

00.00 Uhr: diverse Wecker bereiteten uns mehr oder weniger freundlich auf die anstehende Tour vor. Im wuseligen Treiben der Stirnlampen packten alle die letzten Sachen in ihren Rucksack und taumelten noch schlaftrunken die Treppe zum Frühstück runter wo sich schon die ersten Mitstreiter wortlos an der Nahrungsaufnahme versuchten. Unser erster Blick ging nach draußen. Das Wetter für die Nacht und den kommenden Morgen war gut vorhergesagt, erst gegen Nachmittag sollte die Gewitterwahrscheinlichkeit steigen. Doch sobald wir vor der Tür standen merkten wir: hier stimmt etwas nicht. Der Himmel war bewölkt und die Luft daher erstaunlich warm für mitten in der Nacht. Als zusätzlicher Unheilsverkünder sahen wir im Süden näher kommende Blitze. Ohne das einer sprach, wussten wir, dass unsere Tour hier vorbei war. Während ein unvorhergesehenes Gewitter im Anmarsch ist über aufgeweichte Schneebrücken auf den höchsten Gipfel der Alpen laufen und dann auch noch hinten wieder absteigen? Wer schon einmal auf dem Gipfel des Mont Blanc stand weiß, wie gefährlich schlechtes Wetter in dieser lebensverneinenden Welt aus Schnee und Eis ist. Und wenn sich der Wetterbericht schon stark irrt, dass das Wetter um 180 Grad dreht, wer weiß was uns dann auf dem Gipfel erwarten würde. Müde und enttäuscht diesen Weg hier nicht weiter gehen zu können setzen wir uns an den Tisch um wenigstens ein paar Toasts zu Essen. Wir alle wussten, es war die richtige Entscheidung, bei so ungewissem Wetter eine so lange Tour an zutreten wäre falsch. Doch als die ersten neben uns am Tisch Ihren Kaffee ausgetrunken hatten, fingen Sie an ihre Ausrüstung vorzubereiten. Der Rest der Hütte stimmte in die Vorbereitungen mit ein und nach einem kurzen abwartenden Blick auf den einheimischen Bergführer liefen alle Seilschaften los. Die Blitze, die immer näher kamen und der nun auch leichte Regen, sah oder wollte keiner wahrnehmen.

Schockiert über dieses erschreckende Rudelverhalten schauten wir den Lichtkegeln auf dem Gletscher hinterher bis Sie im Regen verschwanden und legten uns wieder ins Bettenlager. Hatten wir die richtige Entscheidung getroffen? Das Wetter ließ eigentlich keinen anderen Gedanken zu. Aber die Anderen? Und was, wenn das Wetter doch noch besser wurde? Wir wussten es nicht. Nach wenigen Stunden leichtem Schlaf kamen fast alle Seilschaften nass und erschöpft wieder ins Lager. Auch Sie mussten sich den Tatsachen der Realität geschlagen geben. Nur eine große Gruppe kam nicht zurück und schaffte es, wie wir annehmen mussten, auf den Gipfel. War unsere Entscheidung also doch nicht die Richtige?

Aiguille de Bionnassay

Am nächsten Morgen wachten wir nach einer unruhigen Nacht mit strahlend blauem Himmel auf. Hätten wir das gewusst wäre unsere Entscheidung vielleicht anders ausgefallen. Doch vor dieser Problematik stehen wir oft im Leben, nicht nur beim Bergsteigen. Wir beurteilen eine Entscheidung aufgrund des Ergebnisses anstatt durch die Tat. Ein Beispiel: Durch einen Lawinengefährdeten Hang mit Skiern abfahren ist auch dann keine gute Entscheidung, wenn nichts passiert. Was die Psychologen als „Outcome Bias“ bezeichnen, ist ein uns täglich begegnender Denkfehler der es einem schwer macht Entscheidungen richtig zu bewerten und daraus abgeleitet schwer die richtige Entscheidung zu treffen. Wir für unseren Teil waren uns schlussendlich sicher alles richtig gemacht zu haben. In den Bergen wird nur alt, wer das Risiko im richtigen Maße abwägt. Belohnt wurde unsere Entscheidung zunächst mit dem Gipfel der Aiguille de Bionnassay. Der 4052 Meter hohe Berg war in wenigen Stunden von der Gonellahütte aus zu erreichen und eröffnete uns einen wunderschönen Ausblick auf die südlichen Alpenausläufer.

Das Dach der Alpen – im zweiten Anlauf unvergesslich

Mit Blick auf´s Wetter entschieden wir uns dazu eine weitere Nacht auf der Hütte zu bleiben und dem Mont Blanc in der nächsten Nacht eine weitere Chance zu geben. Der Wettergott gab sich gnädig und kurz vor Sonnenaufgang standen wir auf dem 4810 Meter hohem Dach der Alpen. Im Abstieg begrüßten uns dann die ersten Sonnenstrahlen mit einem unvergesslichen Sonnenaufgang. Nach insgesamt 9 Stunden und 56 Minuten kamen wir dann endlich an der Turiner Hütte an, müde und glücklich, dass letztlich doch alles geklappt hat. Auf dem Rückweg ins Rheinland musste ich noch einmal über unsere Entscheidung nachdenken und darüber, auf welcher Grundlage man über Risiko entscheidet. Auch wenn die Situation im Nachhinein gar nicht mehr so spektakulär wirkte, blieb davon doch einiges bei mir hängen und ich war froh, dass wir mit der richtigen Einstellung in den Bergen unterwegs sind und die richtige Entscheidung getroffen haben.